Deutsche Besatzungsherrschaft im Vernichtungskrieg 1939–1945
Von Wolfgang Benz
In seiner Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Januar 2020 fragte Bundespräsident Steinmeier, statt die gern geführte Klage zu führen, dass bald die letzten Zeitzeugen verstummt sind, nach neuen Formen des Gedenkens für eine junge Generation, die zu Recht wissen will, was die Vergangenheit mit ihrem Leben zu tun hat. Dass es mit dem Errichten weiterer Denkmale kaum gelingen wird, Nachgeborene zu erreichen, ist allen bewusst, die neue Formen der Aneignung von Geschichte fordern, anstatt eine aufkommende Nationalisierung des Erinnerns zu bejubeln. Freilich ist es aller Ehren wert, Mahnzeichen z.B. für das, was in Polen oder Griechenland im Zweiten Weltkrieg geschah, in Berlin zu setzen. Es ist die Stadt, in der das Unheil geplant und befohlen wurde, das über die Zivilbevölkerung fast aller europäischen Nationen hereinbrach. Was liegt daher näher als der Gedanke, in Berlin daran zu erinnern und über den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg unter deutscher Besatzung aufzuklären? Aber genügt ein abstraktes Zeichen, künstlerisch gestaltet, politisch gewollt, aber seinen Zweck nicht selbsterklärend?
Wenn es um der Emotionalität willen monumentaler Zeichen bedarf, so müssen sie durch einen Ort des Lernens, der kognitiven Auseinandersetzung, an dem die Ziele und das ganze Ausmaß der Verbrechen deutscher Besatzungsherrschaft dokumentiert und erfahrbar sind, begleitet werden. Ein solches Zentrum der Aufklärung gibt es nirgendwo. Die zahlreichen NS-Dokumentationszentren, Gedenkstätten, Erinnerungsorte, die alle notwendig sind, die die deutsche Erinnerungskultur prägen, sind bestimmten Opfergruppen gewidmet – Juden, Sinti und Roma, Euthanasieopfern, Homosexuellen u.a. –, oder sie thematisieren nationalsozialistische Herrschaft im Blick auf die deutsche Gesellschaft, zeigen Wurzeln, Entwicklung, Wirkung der Ideologie für die eigene Nation bis zu deren Untergang. Einen Ort, an dem nationalsozialistische Herrschaft und deren Folgen in den okkupierten Territorien Europas dargestellt wird, gibt es noch nicht. Ein Dokumentationszentrum über Besatzungsherrschaft im Vernichtungskrieg ist ein Desiderat, kein beliebig den bestehenden Einrichtungen historischer Information hinzuzufügendes Unternehmen, das allenfalls den Sinn bestehender Einrichtungen variieren würde. Es ist eine schiere Notwendigkeit, wäre aber über sein erinnerungskulturelles und didaktisches Ziel hinaus auch ein politisches Zeichen für ein geeintes Europa.
Die Idee eines Dokumentationszentrums, das sich dem Thema „Deutsche Besatzungsherrschaft im Vernichtungskrieg 1939–1945“ widmet, entstand in der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Die Initiative zur Errichtung eines Monuments für Polen als erster Opfernation deutscher Aggression weiterführend unterbreitete der Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas im November 2019 den Abgeordneten des Deutschen Bundestages den Vorschlag, in einem Dokumentationszentrum alle zivilen Opfer Europas zu würdigen. Ein solches Dokumentationszentrum hätte mehrere Aufgaben: Es wäre Ort der historischen Aufklärung und Bildung, der Begegnung von Menschen aller Generationen aus allen europäischen Staaten, Stätte der Toleranz und Friedensarbeit wie auch des Gedenkens an die zivilen Opfer aller Nationen Europas während des Zweiten Weltkrieges. Die vergleichende Perspektive führt die gemeinsamen Ziele deutscher Okkupation zwischen Pyrenäen und Ural vor Augen, würde vor allem aber auf die rassistisch motivierten Unterschiede der Behandlung der Zivilbevölkerung, der Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiter auf den Territorien unter deutscher Herrschaft aufmerksam machen. Dadurch wird der Charakter des Vernichtungskrieges im Osten und auch im Südosten deutlich. Im Norden und Westen Europas zielte die gleiche Strategie auf Unterwerfung unter deutsches Herrenmenschentum.
Außer einigen wenigen allgemein bekannten Orten von Kriegsverbrechen in Frankreich, Italien und Griechenland sowie den Stätten des Völkermords in Polen, Weißrussland, der Ukraine, dem Baltikum sind viele Schauplätze deutscher Gewaltherrschaft in der deutschen Erinnerungskultur bisher namenlos geblieben. Nur in einer Zusammenschau, die nicht relativiert und hierarchisiert, sondern Bezüge setzt, kann sich dies ändern.
Im Rahmen von „Vergeltungsmaßnahmen“ wurde das französische Dorf Oradour-sur-Glane 1944 vernichtet, in Belarus löschten deutsche Einheiten 1943/44 über 600 Dörfer samt ihrer Bevölkerung aus. Für deutsche Barbarei in Italien steht das Dorf Marzabotto. Vernichtete Dörfer und die Ermordung ihrer Bewohner verweisen mit Lidice und Lezaky auf deutsche Verbrechen in der Tschechischen Republik und mit Kalavryta, Kommenno oder Distimo in Griechenland. Mehr als 230.000 Kriegsgefangene aus den USA, Großbritannien und Kanada waren in deutschem Gewahrsam. Von ihnen überlebten knapp 8400 den Krieg nicht. Von insgesamt fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurden über drei Millionen gezielt ermordet oder durch Hunger und Krankheiten getötet. Der von der deutschen Besatzungsmacht herbeigeführte „Hongerwinter“ in Holland 1944/45 kostete etwa 22.000 Menschen das Leben, die fast 900 Tage währende Leningrader Hungerblockade von September 1941 bis Januar 1944 zwischen 800.000 und 1,2 Millionen Kinder, Frauen und Männer.
Das Dokumentationszentrum würde über die Vermittlung von Wissen darüber hinaus die Idee „Europa“ stärken, die Verständigung über die anhaltenden Folgen des Zweiten Weltkries fördern und einer nationalstaatlichen Zersplitterung der Erinnerungskultur entgegenwirken – als ein gemeinsames europäisches Forum, das nicht nur der Würdigung aller Opfer, sondern auch dem Informationsbedürfnis künftiger Generationen dient.
Wenn die Gefahr besteht, dass ein Denkmal zum martialischen Ort wird, an dem patriotische Auftritte Opferkonkurrenz entfachen, wo der von unerwünschter Seite niedergelegte Kranz Zorn erregt, muss man innehalten, um das Problem zu überdenken. Vielleicht sind Erinnerungsmonumente im öffentlichen Raum anachronistisch. Die Diskussion um das Einheitsdenkmal in Berlin, das außer Politikern möglicherweise niemand will, könnte ein Indiz dafür sein, dass die Zeit der Denkmalstiftungen vorbei ist.
Die intellektuelle Debatte, die der Künstler Jochen Gerz mit seinem unsichtbaren Erinnerungszeichen in Saarbrücken anstieß, machte auf die ästhetischen Probleme monumentalen Gedenkens aufmerksam, die das 19. Jahrhundert kennzeichnen, die aber im 20. Jahrhundert fragwürdig geworden sind. Die Skepsis gegenüber Zeichen, die nur an Emotionen rühren, aber keine Erkenntnis stiften können, ist mehr denn je ernst zu nehmen. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist – trotz der damit eingeleiteten Hierarchisierung der Opfergruppen, die jedoch wenigstens organisatorisch unter einem Dach vereint sind – deshalb so erfolgreich, weil es an seinem „Ort der Information“ den Holocaust dokumentiert und dadurch Wissen vermittelt, Aufklärung leistet, Schulklassen, Touristen, Bürgern aus aller Welt zur Erkenntnis und Einsicht in historische Zusammenhänge hilft.
Ein Monument, gleich welcher Dimension, ob riesig oder bescheiden, ästhetisch gelungen oder als Kitsch im öffentlichen Raum perpetuiertes Ärgernis, ob abstrakt oder konkret erregt Gefühle – und zwar eher nationale als europäische und bei vielen deshalb auch Abwehr und Verweigerung –, schafft aber nicht das Wissen, das in zunehmendem Abstand vom historischen Ereignis immer wieder neu erworben werden muss. Wissen, das notwendig ist, um Solidarität mit den Opfern zu schaffen.
Der Besuch der Schulklasse am Denkmal erzeugt im besten Fall flüchtige Empathie, wahrscheinlich eher Langeweile. Notwendig ist deshalb ein Ort, an dem zu erfahren ist, welche Leiden dieser Krieg über Unbeteiligte, über die Zivilgesellschaft in den überfallenen Nationen gebracht hat, über Polen und Griechen, die russischen, ukrainischen, weißrussischen Bürger der Sowjetunion, über Litauen, Estland und Lettland, über Norweger, Dänen und Italiener, Franzosen, Belgier, Luxemburger, Niederländer. Die Liste ist mit den Völkern Jugoslawiens noch nicht abgeschlossen, und auch die Angehörigen der im Zweiten Weltkrieg getöteten Briten und Amerikaner, Kanadier oder Australier gehören dazu. Ein Dokumentationszentrum, als Ort des Lernens und Gedenkens, der allen Opfern des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs ein Dach bietet, unter dem gemeinsam erinnert und getrauert wird, ist die zeitgemäße Herausforderung an das Bewusstsein aller Europäer, die nationales Denken überwindet, Begegnung und Gemeinsamkeit möglich macht und Frieden stiftet.