Berlin und Darmstadt, den 9. Juni 2020
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrtes Präsidium des Deutschen Bundestags,
sehr geehrte Damen und Herren Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktionen,
sehr geehrter Herr Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe,
sehr geehrter Vorstand der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe,
sehr geehrte Mitglieder des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Bundesminister des Auswärtigen,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Grütters,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Müntefering,
sehr geehrter Herr Staatsminister Roth,
sehr geehrter Herr Koordinator für die deutsch-polnische Zusammenarbeit,
in den vergangenen Jahren ist in Deutschland intensiv diskutiert worden, wie an die Opfer von deutscher Besatzungsherrschaft und Vernichtungskrieg in Europa im Zweiten Weltkrieg angemessen erinnert werden soll. Verschiedene Initiativen haben sich zu Wort gemeldet, die sich dafür aussprachen, der Opfer der von NS-Deutschland überfallenen Republik Polen, des östlichen Europa oder des gesamten Kontinents zu gedenken. Dazu zählen die Initiative zur Errichtung eines Denkmals für die Opfer der deutschen Besatzung in Polen 1939 – 1945 (»Polendenkmal«), eines Gedenkorts für die Opfer der »NS-Lebensraumpolitik« sowie der Vorschlag zur Gründung eines Dokumentationszentrums über die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa zwischen 1939 und 1945.
Federführend für zwei maßgeblich an der Debatte beteiligte Institutionen, die Bundesstiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, schlagen wir nun vor, die verschiedenen Vorschläge und parlamentarischen Initiativen zusammenzuführen. Damit wollen wir keine Konkurrenz zu existierenden Einrichtungen schaffen, sondern das bestehende Gedenkensemble sinnvoll und notwendig ergänzen.
Zentral bleibt nach unserer Auffassung die Notwendigkeit, Leerstellen historischen Wissens in der deutschen Öffentlichkeit zu beheben, über millionenfache Verbrechen aufzuklären, deutsche Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik zu dokumentieren sowie die Erinnerung an das in deutschem Namen begangene Unrecht langfristig zu erhalten und zu stärken. Ebenso notwendig ist es, den Dialog mit den betroffenen Gesellschaften weiter zu intensivieren und ihnen gegenüber zu dokumentieren, dass sich die Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft ihrer historischen Verantwortung für das über Europa gebrachte Unrecht bewusst ist. Als Folge des deutschen Angriffskrieges verloren Millionen Deutsche, Polen und andere ihre Heimat.
Das Konzept der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Deutschen Polen-Instituts sieht drei Elemente vor: Symbolisches Gedenken, Dokumentation und Bildung. Wir schlagen dabei vor, diese drei Ebenen in einem gemeinsamen räumlichen Kontext zu denken.
1) Symbolisches Gedenken
Das zu schaffende Gedenk-Ensemble an einem zentralen Ort in Berlin-Mitte würde an einem »Platz des 1. September 1939« liegen, der parallel die polnische Bezeichnung »Plac 1 września 1939 r.« erhält. Auf diesem Platz entsteht in dreidimensionaler Form eine permanente künstlerische Installation (»Denkmal«), zum Beispiel mit folgender Widmung:
»Mit dem deutschen Überfall auf die Republik Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Wir gedenken der Opfer von nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik bis 1945.« Dieses Denkmal wäre das »Polendenkmal«. Deshalb wird die Widmung auch in polnischer Sprache wiederholt. Denkbar wären auch weitere Sprachen in abgesetzter Form. Zugleich wäre das Denkmal der zentrale deutsche Gedenkort für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Opfer in allen deutsch besetzten Ländern und Gebieten.
Bis zu einer Verwirklichung des neuen Gedenk-Ensembles werden temporäre Aktionen unterstützt, zum Beispiel das Gedenken an den Überfall auf Polen und an die besonderen Besatzungs- und Terrorerfahrungen Polens auf dem Askanischen Platz.
2) Dokumentation
An dem »Platz des 1. September 1939« entsteht ein Dokumentationszentrum über die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa von 1939 bis 1945. Nur in der vergleichenden Sicht werden die individuellen und kollektiven Gewalterwahrungen der unterschiedlichen Gesellschaften und Opfergruppen verständlich. Diese reichen von Millionen ermordeten Juden Europas, Millionen ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen, Millionen ermordeten polnischen Zivilisten, Opfern von Massakern in Kiew, Warschau, Oradour-sur-Glane, Sant’Anna di Stazzema, Lidice, Kalavryta und tausenden anderen Städten und Dörfern bis hin zu ungezählten Verhungerten in Leningrad, Griechenland oder in den Niederlanden. Die vergleichende Perspektive würde die Gemeinsamkeiten deutscher Okkupation zwischen Pyrenäen und Kaukasus, zwischen Nordkap und libyscher Wüste herausstellen, vor allem aber auf die rassistisch motivierten Unterschiede bei der Behandlung der Zivilbevölkerung, der Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiter aufmerksam machen. Dadurch wird der Charakter der Besatzung in Polen, des Vernichtungskrieges im Osten und auch im Südosten Europas umso deutlicher. Nur in einer Zusammenschau, die nicht relativiert, sondern Bezüge setzt, kann dies überzeugend geschehen.
Das Dokumentationszentrum wäre ein Projekt der deutschen Erinnerungskultur, das inhaltlich in Abstimmung mit den Erinnerungskulturen der anderen Nationen, Opfergemeinschaften und Forschungslandschaften zu entwickeln ist. An der Umsetzung und inhaltlichen Gestaltung dieses federführend von der Stiftung Denkmal koordinierten Zentrums wären das Deutsche Polen-Institut bzw. von ihm benannte Vertreter maßgeblich beteiligt.
3) Bildung
In dem geplanten Dokumentationszentrum entstehen Räumlichkeiten, die von zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Gedenken an einzelne Opfergruppen genutzt werden. Für diese Arbeit werden ab sofort entsprechende Mittel bereitgestellt. Hier wird unter anderen das Deutsche Polen-Institut mit einer »Fliegenden Akademie« aktiv, deren Ziel als »Lebendes Polendenkmal« es ist, bundesweit Bildungsangebote zur Erinnerung an die spezifischen Gewalterfahrungen Polens im Zweiten Weltkrieg zu entwickeln und umzusetzen. Auch Formen einer angemessenen Bildungsarbeit zu anderen besetzten Ländern – insbesondere der Ukraine und Weißrussland – sind zu entwickeln.
Wir bitten den Deutschen Bundestag, sich für die baldmögliche Entstehung dieser drei Ebenen des Gedenkens an die Folgen deutscher Besatzungsherrschaft und Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg noch in dieser Legislaturperiode einzusetzen. Wir sind gerne bereit, einen entsprechenden Bundestagsbeschluss vorzubereiten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Prof. Dr. Rita Süssmuth
Bundestagspräsidentin a.D.
Präsidentin des Deutschen Polen-Instituts
Prof. Dr. Wolfgang Benz
Sprecher des Beirats der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
Prof. Dr. Peter Oliver Loew
Direktor Deutsches Polen-Institut
Uwe Neumärker
Direktor Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas