Von Svetlana Burmistr und Uwe Neumärker
Die Ukraine hatte in den Jahren 1941 bis 1944/45 über fünf Millionen Opfer zu beklagen – mindestens 3,5 Millionen jüdische und nichtjüdische Zivilisten, darunter etwa auch 30 000 Roma, und bis zu 1,5 Millionen sowjetische Kriegsgefangene. Von den 2,8 Millionen nach Deutschland verschleppten sowjetischen Zwangsarbeitern, zumeist Frauen, stammte mehr als die Hälfte aus der Ukraine. Zahlreiche Dörfer wurden verbrannt, Städte zerstört. Die derzeitige Geschichtserzählung dominiert der „Holodomor“, die Hungerkatastrophe der Jahre 1932/33 mit mindestens 3,5 Millionen Toten. Holocaust und Holodomor – allein sprachlich drängt sich ein Vergleich oder gar eine Gleichsetzung auf. Wie gedenkt man beider „nationaler Tragödien“ und ihrer Opfer, ohne Konkurrenz und Hierarchien zu schaffen? Eine der vielen Fragen, die offener und breiter öffentlicher Diskussionen bedarf.
Die ukrainische Erinnerung an die ermordeten jüdischen Nachbarn ist einerseits mit der Auseinandersetzung über deren Schicksal und andererseits mit der Frage nach der eigenen Beteiligung am Massenmord verbunden. Gleichzeitig müssen generationsübergreifende Traumatisierungen der ukrainischen Gesellschaft individuell und kollektiv verarbeitet werden. Eine staatliche Erinnerungs- und Gedenkpolitik, die bei der Bewältigung der Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkrieges hilfreich sein könnte, fehlt bislang.
Über 1,5 Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer wurden während der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ermordet. Über eine Million von ihnen fiel Massenerschießungen zum Opfer – meist in unmittelbarer Nähe ihres Wohnortes, vor den Augen ihrer Familien und Nachbarn. Deutsche Einheiten der Wehrmacht, SS und Polizei unter Beteiligung einheimischer Hilfswilliger löschten jahrhundertealte jüdische Gemeinden oft innerhalb weniger Stunden oder Tage aus. Als Orte für ihre Verbrechen wählten die Täter abgelegene Schluchten und Wälder, ehemalige Panzergräben, Sandgruben und Tierfriedhöfe aus – oder zwangen die Opfer dazu, mitten auf Feldern ihre Gräber selbst auszuheben.
Meist wurden zuerst die Männer in kleinen Gruppen erschossen, dann Frauen und Kinder. Immer wieder berichten Zeugen vom Leid der jüdischen Menschen: von Kindern, die vor den Augen ihrer Eltern ermordet oder lebendig in die Gruben geworfen wurden, von Frauen und ihren Säuglingen, von alten und gebrechlichen Menschen, die von Angehörigen zum Grab getragen wurden, von jungen Frauen und Mädchen, die vor ihrem Tod, oftmals tagelang in der Gefangenschaft, gedemütigt und vergewaltigt wurden, vom Abschied der Opfer voneinander, von Gebeten und Verzweiflungsschreien. Diese Stimmen sind verstummt. Den wenigen, die auf wundersame Weise überleben konnten, haben sich die letzten Worte und Augenblicke ihrer Liebsten fest ins Gedächtnis eingebrannt.
Schätzungsweise über 2000 solcher Erschießungsstätten befinden sich allein auf ukrainischem Boden. Viele sind nach Kriegsende in Vergessenheit geraten. Für die wenigen Überlebenden musste das Gedenken an ihre ermordeten Familienangehörigen, Freunde und Bekannten privat bleiben. Die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung ließ keine Benennung einzelner Opfergruppen des Zweiten Weltkrieges zu. Wenn auf Initiative jüdischer Überlebender und Rückkehrer bescheidene Gedenksteine aufgestellt werden durften, mussten sie „friedlichen sowjetischen Bürgern“ gewidmet werden. Erst seit den 1990er-Jahren wurden in der dann unabhängigen Ukraine vielerorts Gedenksteine errichtet, die auf die jüdische Herkunft der Opfer hinweisen.
Die riesigen Opferzahlen und die Vielzahl der Orte und Gruben der Massenerschießungen, die über das ganze Land verteilt sind, kennzeichnen die Besatzungsherrschaft und den Holocaust in der Ukraine. Das Land grenzt heute im Westen an die Europäische Union, im Osten muss es sich in einem von Russland aufgezwungenen Krieg verteidigen. Nicht nur in Deutschland, dem Land, das den Vernichtungskrieg im Osten führte, sind die Dimensionen, Ereignisse und Folgen des „Holocaust durch Kugeln“ in der Ukraine kaum bekannt. Daran hat die Tätigkeit des französischen Priesters Patrick Desbois und seiner Organisation „Yahad In Unum“ einiges, aber nichts Grundlegendes geändert. Lediglich einzelne Orte der Verbrechen – wie Babyn Jar in Kiew, Lemberg, Kamenez-Podolsk oder Mizocz – und die dort ermordeten, meist namenlosen Opfer gelangten dank der Forschung, durch Ausstellungen und Presseberichterstattung langsam ins öffentliche Bewusstsein. Doch allein die Namen der Tatorte sind den meisten Westeuropäern völlig fremd und damit letztlich austauschbar, sie sind als Folge des Kalten Krieges und vor allem durch Desinteresse in weite Ferne gerückt.
Die Situation vor Ort offenbart die Gleichzeitigkeit von Erinnern und Vergessen. Durch die Massengräber, deren Lage über Generationen bekannt blieb, ist der Holocaust nach wie vor im Bewusstsein. Dennoch sind die lokalen Narrative sehr bruchstückhaft. Einzelne Ereignisse, Orte und Persönlichkeiten, an die erinnert wird, bilden Puzzleteile, ergeben aber kein Gesamtbild. Die Spuren der jüdischen Gemeinden und der Schtetl verschwinden allmählich: verlassene, überwucherte, oft als Müllhalde genutzte jüdische Friedhöfe, umfunktionierte oder leerstehende Gebäude der ehemaligen Synagogen, Gebetshäuser und jüdischen Schulen. In kleineren Orten wohnen heute oft keine oder nur noch einzelne jüdische Personen oder Familien. Lediglich in größeren Städten gibt es noch – oder wieder – lebendige jüdische Gemeinden. Sie halten das Gedenken wach und pflegen die Gräber im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten.
Berdytschiw – Gewalträume in einer ukrainischen Stadt
Berdytschiw steht – sowohl was das Schicksal seiner jüdischen Einwohner als auch den Zustand der Massengräber des Holocaust angeht – exemplarisch für zahlreiche Orte in der Ukraine. Juden lebten seit dem späten 16. Jahrhundert in Berdytschiw und prägten das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Stadt. Neben Ukrainern, Polen und Russen bildeten sie im Jahr 1897 rund 80 Prozent der Einwohnerschaft. Berdytschiw entwickelte sich zu einem der größten jüdischen Kulturzentren Europas. Die Sowjetmacht förderte zunächst die proletarische jüdische Kultur und die jiddische Sprache, schloss aber gleichzeitig religiöse Einrichtungen. Viele Juden, ebenso wie Ukrainer und andere Nationalitäten, fielen dem Holodomor und später Stalins Terror zum Opfer. 1939 lebten noch etwas mehr als 23.000 Juden in Berdytschiw.
Die Verfolgung, Erniedrigung, Ausgrenzung und Ermordung der Juden in Berdytschiw begann in den ersten Tagen nach dem deutschen Einmarsch am 7. Juli 1941 und endete erst mit der Rückeroberung der Stadt durch die Rote Armee Anfang Januar 1944. Im August 1941 musste zum Beispiel eine Gruppe von jüdischen Frauen durch den Fluss Hnilopiat schwimmen, bis sie ertranken. Das Einsatzkommando 5 führte Erschießungen, oft verbunden mit vorhergehender Erniedrigung der Opfer, durch. Die Wehrmacht zwang die Juden zur Kennzeichnung an der Kleidung und zum Umzug in ein Ghetto, das eine Sammelstelle vor Massenexekutionen bildete.
Am 28. August 1941 wurden im Innenhof des Karmelitenklosters 960 Männer, darunter jüdische Soldaten aus dem Kriegsgefangenenlager und angesehene jüdische Persönlichkeiten der Stadt, erschossen. In der Nähe des Dorfes Chashyn südwestlich von Berdytschiw verübten Polizei- und SS-Einheiten immer wieder Massenerschießungen. Allein am 4. September 1941 wurden hier laut einem Dokument der SS 1303 Juden – vor allem junge Menschen, zwei Drittel davon Frauen – erschossen. Dieser Ort wurde für weitere Erschießungen von Juden, und wahrscheinlich auch von sowjetischen Kriegsgefangenen, genutzt.
Die größte Massenerschießung der einheimischen Juden fand am 15. September 1941 statt. Das Sonderkommando 5 der Einsatzgruppe C, das 45. Reserve-Polizeibataillon, SS und einheimische Polizeikräfte trieben die Juden aus dem Ghetto auf dem Marktplatz zusammen. Einige hundert Handwerker durften mit ihren Familien zunächst ins Ghetto zurückkehren. Alle anderen – etwa 12.000 Kinder, Frauen und Männer – wurden an verschiedenen Stellen auf dem Gelände des Flugplatzes in vorbereiteten Gruben ermordet.
Am 3. November 1941 wurden die zurückgestellten Handwerker und ihre Familien zusammen mit Juden, die man in Berdytschiw oder der Umgebung in Verstecken ausfindig gemacht hatte – zwischen 2000 und 3000 Menschen – in der Nähe des Flugplatzes, beim Dorf Sokulino (heute Dorf Mirne), ermordet. Am 27. April 1942 fielen etwa 70 jüdische Frauen und ihre Kinder aus gemischten Ehen an einem unbekannten Ort dem Terror zum Opfer.
Im Sommer 1942 löste die deutsche Besatzungsverwaltung das Zwangsarbeitslager am „Kahlen Berg“ („Lysa hora“) auf, die aus Berdytschiw und umliegenden Ortschaften stammenden jüdischen Arbeiter wurden erschossen. Im November 1943 rückte die Rote Armee immer näher. Die deutschen Truppen mussten die Stadt verlassen und erschossen vor ihrem Abzug die letzten Juden der Stadt, Häftlinge im SD-Gefängnis. Nur 15 jüdische Überlebende sind namentlich bekannt, die sich beim Einmarsch der Roten Armee Anfang Januar 1944 in Berdytschiw aufhielten.
Nach Angaben der Außerordentlichen Staatlichen Untersuchungskommission, die noch unter den Bedingungen des Krieges und in einem verwüsteten Land im November 1942 ihre Arbeit aufnahm und im April 1944 die Gräber in Berdytschiw untersuchte, wurden während der deutschen Besatzung der Stadt insgesamt 38.536 Personen ermordet, neben etwa 30.000 Juden mehrere Tausend sowjetische Kriegsgefangene sowie vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner.
Nach der Befreiung und der Rückkehr einiger Überlebender bemühte sich die jüdische Gemeinde um einen Neuanfang, um den Aufbau zerstörter Synagogen und um Hilfe für bedürftige Glaubensgenossen. Der Staat bekämpfte diese Aktivitäten und warf ihr „Verletzung sowjetischer Gesetze“ vor. Anfang der 1960er-Jahre nahmen die sowjetischen Behörden die sinkende Anzahl der Juden zum Vorwand, der Gemeinde die Choral-Synagoge wegzunehmen. Darin wurde eine Handschuhfabrik untergebracht. Heute steht das Gebäude im Privatbesitz leer.
Bereits 1946 führten Juden neben den Massenerschießungsgruben eine der ersten Gedenkkundgebungen zur Erinnerung an die „Opfer des Faschismus“ in der Sowjetunion durch. Am Flughafengelände wurde aus Spendengeldern 1953 ein Gedenkstein aufgestellt und sofort wieder demontiert; er galt über Jahrzehnte als verschwunden. Heute steht er auf dem jüdischen Friedhof. Erst 1983 konnten die jüdischen Einwohner Berdytschiws in der Nähe des Flugplatzes ein Denkmal mit Angabe der Anzahl der Opfer sowie erste Gedenksteine an weiteren Massengräbern aufstellen. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine wurde es möglich, neue Erinnerungszeichen mit der Nennung der jüdischen Herkunft der Opfer zu errichten. 2015 eröffnete ein kleines Museum des Judentums in der Stadt Berdytschiw.
2019 konnte am zentralen Holocaust-Gedenkort, am Gelände des ehemaligen Ghettos, eine Freiluftausstellung der Öffentlichkeit übergeben werden. Sie entstand in enger deutsch-ukrainischer Zusammenarbeit im Rahmen des Projektes „Erinnerung bewahren“. Fünf Tafeln informieren in ukrainischer, hebräischer und englischer Sprache über die jüdische Geschichte der Stadt und den Holocaust. Anhand einer Karte bekommen Besucher einen Überblick über die Lage von insgesamt acht großen Massengräbern, die sich in Berdytschiw oder Umgebung befinden.
Die Vielzahl der Massengräber in Berdytschiw zeugt heute noch von der Dimension der deutschen Verbrechen zwischen 1941 und 1944. Die meisten Gräber bieten einen trostlosen Anblick. Berdytschiw kann als beispielhaft gelten: Während das Massengrab auf dem Gelände des Klosters in der Ortsmitte als Gedenkstätte gestaltet ist, sind die Gräber außerhalb der Stadt verwahrlost, unmarkiert und ungeschützt. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde kümmert sich um sie, seine Möglichkeiten sind jedoch beschränkt und das Ausmaß der notwendigen Arbeiten ist enorm. Regelmäßig werden die Gräber geschändet, auf der Suche nach vermeintlich versteckten Wertgegenständen der Ermordeten zerstört und geschändet: Knochen, Schädelteile, Haarbündel und Kleidungsfetzen liegen frei. In Chazhyn bei Berdytschiw, einem der Massenvernichtungsorte, sieht die Situation seit Sommer 2019 anders aus. Im Rahmen des Projektes „Erinnerung bewahren“ wurde das Massengrab als ein würdiger Gedenkort gestaltet.
„Erinnerung bewahren“
Im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Protecting Memory“ (unter der Leitung des American Jewish Committee Berlin) und „Erinnerung bewahren“ (ab 2016 unter dem Dach der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) wurden zwischen 2010 und Ende 2019 insgesamt 20 besonders bedrohte Massengräber ermordeter Juden und Roma als würdige Gedenk- und Informationsorte eingerichtet. Intensive historische und pädagogische Arbeit begleitete das Projekt. Die Anteilnahme der einheimischen Bevölkerung an den Einweihungszeremonien war beachtlich. Auch wenn die Anzahl der errichteten Gedenkorte angesichts der Gesamtzahl der Massengräber verschwindend gering erscheint, kommt dieser Arbeit zentrale Bedeutung zu. Sie verdeutlicht, dass Schutz und würdiges Gedenken an solchen Orten möglich sind. Durch die enge Einbeziehung der lokalen Gemeinden und Schulen werden Wege eröffnet, die Erinnerung an die ermordeten Juden und Roma wachzuhalten und ihre Geschichte als Teil der ukrainischen Nationalgeschichte zu begreifen.
Dr. Svetlana Burmistr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „NETZWERK ERINNERUNG – CONNECTING MEMORY – МЕРЕЖА ПАМ’ЯТІ“ der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.
Uwe Neumärker ist Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.